Montag, 27. Februar 2012

Mobbing - komplexes Phänomen im Schulalltag und systemische Antwort

Soziale Systeme kennzeichnen sich dadurch, dass sie komplex sind. Komplexe Systeme sind dadurch charakterisiert, dass sie schwer kontrollierbar und bisweilen unüberschaubar erscheinen. Um eine höhere Kontrollierbarkeit zu generieren und die Komplexität zu reduzieren, ...

1) ... gilt es, sich der Variablen im System bewusst zu werden und
2) ... im Bedarfsfall einzelne der Variablen herauszunehmen / zu isolieren.

Auf der anderen Seite kann es sein, dass durch die Beeinflussung über Art und Zusammensetzung des Systems der Versuch unternommen wird, aus kontrollierten Systemen selbst regulierende Systeme zu kreieren (vgl. Kreisverkehr anstatt Ampelkreuzung).

Ein Beispiel, in welcher ein soziales System in ein Ungleichgewicht gerät und interne Konflikte zu sozialen Spannungen führen, ist Mobbing (engl. "mob" = "randalierender Haufen") unter Schülern. Karl Gebauer (S. 126) definiert Mobbing wie folgt:
„Mobbing ist ein aggressiver Akt und bedeutet, dass ein Schüler oder eine Schülerin über einen längeren Zeitraum von Mitschülern belästigt, schikaniert oder ausgegrenzt wird. Mobbingprozesse laufen in der Regel verdeckt ab. Mobber wollen treffen aber selber nichts abbekommen. Die Opfer fühlen sich hilflos und können sich nicht alleine aus ihrer Isolation befreien. In Einzelfällen geraten auch die Eltern von Mobbingopfern in die Isolation.“ 
Doch wie können Mobbing-Situationen aus systemischer Sicht gelöst werden? Hier sind zunächst intrinsische Anreizsysteme der Kontrolle vorzuziehen. Das Problem hier ist: Mobbingopfer werden - wie Gebauer es anspricht - von ihren  Mitschülern ausgegrenzt und nicht als Teil des Systems "Klasse und Umfeld" anerkannt. Der Status des Mobbingopfers ist ein passiver. => Das Mobbingopfer ist zwar Teil des sozialen Systems und trotzdem wird es so behandelt, als wäre es nicht Teil des Systems. Wir haben hier ein Missverhältnis zwischen Anspruch und Realität.

 

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Mögliche Lösungen:

A) Die Lehrperson hat nun die Möglichkeit, den Variablen im System, d.h. den Schülern, Eigenschaften zukommen zu lassen, welche ihren Status verändern. Gewisserweise kann z.B. das Mobbingopfer als aktives Mitglied des sozialen Systems "Klasse und Umfeld" wieder an die übrige Gruppe herangeführt werden. Lob, Anerkennung und Würdigung der Leistungen des Mobbingopfers vor der Klasse können dies bewirken und seinen Status in der Gruppe erhöhen; es wird so wieder zurück ins System geleitetEin Mobbingopfer ins System zu holen geschieht hier durch vorgelebte und erkennbar geäusserte Integration von der Seite der Lehrperson.

B)  Es wäre aber auch zu überlegen, ob durch eine Statusänderung aller Beteiligten eine selbstregulierende Integration erzeugt werden kann. Aus systemischer Sicht kann dies bedeuten, dass alle "aktiviert" werden. Dabei kann für alle das gemeinsame Unterrichtsziel wieder in den Fokus gerückt werden: z.B. Lernen aller im Unterricht statt unterrichten durch den Lehrer. 
Die Unterrichtsführung ist hier auf das Lernen auszurichten; es findet eine Motivierung aller statt. Der Fokus, die Energie kann in eine Richtung gelenkt werden, so dass es auch für den Täter nicht mehr vorteilhaft erscheint, seine Energie für das Mobben aufzuwenden. Das kann geschehen durch:
  • Individualisierung des Unterrichts: gelebter Konstruktivismus lässt die Akzeptanz aller steigen. Wertschätzung findet bei allen statt und der Fokus und die Motivation werden auf den Unterrichtsinhalt gelenkt. 
  • Absorbierung der Täter von ihrem schädlichen sozialen Umfeld. Dies kann durch Ganztagsschulen mit Hausaufgabenbetreuung und organisierten Freizeitangeboten in der Schule geschehen. 
C) Werte thematisieren: hier geht es um eine Sensibilisierung des Bewusstseins für die schädlichen Wirkungen von Mobbing. Werte zu thematisieren darf als Teil der Kompetenzorientierung aufgefasst werden. In diesem Fall bedeutet es ein Training der "Sozialkompetenz".



Literatur zum Thema:

Christa Renoldner, Eva Scala, Reinhold Rabenstein: einfach systemisch. Ökotopia Verlag, Münster, 2007. 
Alexander J.: "Das ist gemein!" Wenn Kinder Kinder mobben. So schützen und stärken Sie ihr Kind. Herder, 1999.
Axel Bödefeld: „… und du bist weg!“ Bullying in Schulklassen als Sündenbock-Mechanismus. Wien 2006, ISBN 3-7000-0526-1.
Angelika Ludwig: Wege aus der Mobbingfalle und anderen Teufelskreisen im Lebensraum Schule. In Mobbing & Gewalt unter Jugendlichen und Kindern von Andreas Neider: 1. Auflage. Verlag Freies Geistesleben, 2009.
Annemarie Renges: Mobbing in der Schule.
http://www.schulberatung. bayern.de/vpmob.htm
Dambach, K.E.: Mobbing in der Schulklasse. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag, 2002.
Fliegel, Steffen (2000). Mobbing in der Schule.
http://www.wdr.de/radio/wdr2/westzeit/psychologie001108.html (01-04-07)
Hurrelmann, Gegen Gewalt in der Schule (Handbuch für Elternhaus und Schule), Beltz-Verlag.
Hanses, P. & Rost, D.H. (1998). Das „ Drama“ der hochbegabten Underachiever – „gewöhnliche“ oder „außergewöhnliche“ Underachiever? Zeitschrift für Pädagogische Psychologie,12, 53-71.
Krumm, V. (1996). Gewalt in der Berufsschule - Ausmaß - Erklärungen - Maßnahmen. In K. Beck, W. Müller, Th. Deißinger & M. Zimmermann (Hrsg.), Berufserziehung im Umbruch. Didaktischer Herausforderungen und Ansätze zu ihrer Bewältigung (S. 225-238). Weinheim: Deutscher Studienverlag.
Krumm, V. (1997). Empirische Untersuchungen über Gewalt in der Schule - Eine methodenkritische Übersicht. In H. G. Holtappels, W. Heitmeyer, W. Melzer & K. J. Tillmann (Hrsg.), Schulische Gewaltforschung - Stand und Perspektiven. (Mit einer Bibliographie der empirischen Untersuchungen über 'Gewalt in der Schule' von1990-1996).
Volker Krumm, Birgit Lamberger-Baumann, Günter Haider: "Empirische Pädagogik" (Heft 2/1997: Themenheft "Gewalt in der Schule")
Olweus, D.: Gewalt in der Schule. Was Lehrer und Eltern wissen sollten und tun können. 1996. Hogrefe.
Olweus, D.: Gewalt in der Schule: Was Lehrer und Eltern wissen sollten – und tun können. 3. Auflage. Bern: Verlag Hans Huber, 2004 .
Dan Olweus: Gewalt in der Schule. Was Lehrer und Eltern wissen sollten – und tun können. 4. Auflage. Huber, Bern 2006, ISBN 3-456-84390-9.
Kasper, H.: Mobbing in der Schule: Probleme annehmen – Konflikte lösen, Weinheim; Basel: Beltz Verlag, 1998.
Karl Gebauer: Mobbing ist kein individuelles sondern soziales Problem. In Mobbing & Gewalt unter Jugendlichen und Kindern von Andreas Neider: 1. Auflage. Verlag Freies Geistesleben, 2009.
Heinz Leymann in „Mobbing in der Schule, AOL“ von Kasper, Horst (1998), S.22.

Robert Briewasser, Markus Wiesinger & Martin Winklehner: Mobbing in der Schule. Entwicklungspsychologie - http://www.stangl.eu/psychologie/entwicklung/mobbing.shtml

Stefanie Betz & Caroline Krebietke: Streitschlichtung – ein Weg zum konstruktiven Umgang mit Konflikten unter Schülern. In Mobbing & Gewalt unter Jugendlichen und Kindern von Andreas Neider: 1. Auflage. Verlag Freies Geistesleben, 2009.
Schäfer M./Frey,D.(Hrsg.): Aggression und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, 1999. Hogrefe.
Schäfer, M.: Mobbing unter Schülern. In: Franz Petermann und W. Schneider. Enzyklopädie der angewandten Entwicklungspsychologie. Göttingen: Hogrefe, 2007.
Schubarth Wilfried: Gewalt und Mobbing an Schulen – Möglichkeiten der Prävention und Intervention. Verlag W. Kohlhammer Druckerei GmbH Stuttgart, 2010.
Stangl, Werner: Mobbing in der Schule, 2005.
http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/ KOMMUNIKATION/MobbingSchule.shtml (06-06-06)
Studienkreis (Schweiz) GmbH: Mobbing in der Schule
http://www.studienkreis.ch/ch_mobbing.html
Schüler gegen Mobbing – Hilfe für Schüler, Eltern und Lehrer: Mobbing in der Schule.
http://www.mobbing-in-der-schule.info/
Werner Ebner: Schüler-Mobbing (2007).
http://barrierefrei.schueler-mobbing.de/mobbing.html

Dienstag, 21. Februar 2012

Bologna-Prozess - Vorbild für die Sekundarstufe II?


 
Oscar Wild sprach einst: 

"Das Durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand, das Außergewöhnliche ihren Wert."

Wohl kann man dem Zitat Recht geben, wenn man für die Individualität der Menschen einsteht. Da jeder Mensch einmalig ist, ist er zugleich auch aussergewöhnlich. In diesem Wissen ist es somit naheliegend, den Menschen individuell zu fördern und seine Ressourcen an die Oberfläche zu holen. In einer Welt, in der der Konstruktivismus in den Schulen Einzug hält, mag dieses Zitat an Ausstrahlung dazugewinnen. Letztlich kann der Durchschnitt als der bequeme Weg bezeichnet werden, mit den bestehenden Normen mit zu schwimmen und sich weniger mit Kräfteaufwand dagegen zu wehren.

Hier kann der "Durchschnitt" gleichgesetzt werden mit dem Begriff "Standards". Dabei sind wir bereits mitten in der Diskussion über den Bologna-Prozess, welcher durch die Standardisierung eine Vergleichbarkeit bewirken möchte. - Der Bologna-Prozess propagiert Vergleichbarkeit. Er sieht vor, ein Leistungspunktesystem, das  European Credit Transfer System (ECTS), einzuführen, um die Mobilität zwischen den unterschiedlichen Hochschuleinrichtungen zu steigern. Zusätzliche Freiheiten werden hier nicht erreicht, sondern Pflichterfüllung und ein Verlust der Identität der eigenen Schule generiert. Hinzu kommt, dass die Standardisierung auf die Inhalte wirkt, welche über alle Bologna-Befürworter ergossen wird.

Ein weiteres Kriterium / Resultat des Bologna-Prozesses sind schnelle Abschlüsse, um arbeitsmarktfähig zu sein. Dabei löst sich die Bildung weg von den zu lernenden Kompetenzen und entwickelt sich hin zu einer Bildung am Fliessband (vgl. anschliessender Videobeitrag).



Auf die Frage, ob der Bologna-Prozess ein Vorbild für die Sekundarstufe II ist, so ist sie überwiegend mit NEIN zu beantworten. Die Individualisierung sowohl der Bildung vor Ort beim Lernenden als auch die Individualisierung der Region und der Wettbewerb von Schulen und Universitäten gehen verloren. Begrüssenswert mag sein, dass kleinere Lerneinheiten, sog. Module, angeboten werden und eine flexible Wahl von Kursen möglich / eine Fokussierung auf Stärken möglich sind. Auch auf Ebene der Sekundarstufe II mag eine Modularisierung Positives bewirken und die Lernenden können sich für ihre Stärke entscheiden bzw. diese  weiterentwickeln (Durchlässigkeit im Bildungssystem).

Jedoch: Ein Mittel, welches den Zweck besserer Vergleichbarkeit erzeugt, kann eben sehr schnell nicht nur eine Standardisierung sondern auch ein Identitätsverlust hervorrufen. Bildungsreformen, welche eine Standardisierung zum Zweck höherer Kontrolle bewirken, machen die Bildungslandschaft unikonform und eintönig.

 

Freitag, 17. Februar 2012

Das Pänomen "Lernen" und der Umgang im Schulalltag

Friedrich Wilhelm Nietzsche sprach einst „Die Bildung wird täglich geringer, weil die Hast größer wird“ (in "Unschuld des Werdens 1, 186"). 

Carl Hilty seinerseits sprach „Die Bildung kommt nicht vom Lesen, sondern vom Nachdenken über das Gelesene“.

Beide Zitate versinnbildlichen das, woran es im schulischen Unterricht allzu oft fehlt: nämlich an Zeit. Es fehlt an Zeit, um sich auf einem höheren taxonomischen Niveau mit dem Gelesenen auseinanderzusetzen und sich ausgiebig darüber Gedanken zu machen. Die Bildungsreform BIVO 2012 verstärkt den Prozess, den Schulunterricht an den Berufsschulen stärker zu takten und straff zu gestalten. Sie animiert die Lehrkräfte noch mehr, sich auf Quantität des zu lernenden Stoffinhaltes zu konzentrieren und sich bei den kognitiven Stoffinhalten zu beschränken. Der Platz für zeitintensivere Auseinandersetzungen, welche Analyse-, Synthese- und Evaluationsprozesse einschliessen bzw. metakognitive Betrachtungsweisen erfordern, wird somit beschnitten.

Lernen und das Nachdenken über das Gelesene erfordern Zeit. Noch mehr Zeit wird benötigt, wenn es darum geht, Erfahrungen mit sämtlichen Sinnen (VAKOG) vorzunehmen, den Unterricht an Problemen und Fällen auszurichten und Handlungsorientierung zu leben.
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Im praktischen Schulalltag orientiere ich mich an folgenden Bezugspunkten, um ein optimales "Lernen" zu fördern:

1) Verlinken verschiedener Themen, um systemische Gegebenheiten zu erfassen und Synergien bei der Vermittlung von Stoffinhalten zu generieren. Methodisch bedeutet es für den Unterricht:
- Einsatz von Fallstudien aus Wirtschaft und Staatskunde
- Einsatz von Lernjobs in Teams für das Lernen zu Hause / ausserhalb des Klassenzimmers im Wirtschafts- und Staatskundeunterricht. Die Lernenden bekommen zusätzliche Zeit für eine intensivere Auseinandersetzung und vor allem für eine Auseinandersetzung, welche sich an der Selbstgestaltung des Lernprozesses orientiert und an die Motivation der Lernenden andockt. Bereits Galileo sprach: „Du kannst niemanden etwas lehren. Du kannst ihm nur beibringen, es selbst zu entdecken".
- Einsatz von MindMaps und Begriffsnetzen.

2) Anwendung der "Debatte" als Methode sowie eines Umfeldes, in dem Argumente ausgetauscht werden können. Der Austausch verstärkt die Verknüpfung und zeigt die Anerkennung der Schülersicht. Dadurch Intensivierung der Motivation und des Mitmachens. Lernen wird damit unter Einbeziehung des Limbischen Systems gestaltet und verstärkt.



3) Lehrlandkarten (nicht Lernlandkarten) durch den Lehrer: Eine Art Protokoll von dem, wo wir stehen und wo wir hinwollen, den getätigten Exkursionen, den erreichten Meilensteinen sowie den einschlägigen Kapiteln und Quellen, welche wir behandelt haben. Es handelt sich hier noch um keine Visualisierung des Lernens, wie es im Lernenden geschieht, sondern um eine Orientierung für den Schüler, um Lernen transparent zu gestalten.