Dienstag, 24. Januar 2012

Brüggli, Märtplatz, ... - (Öffentliche) Lehrwerkstätten als 4. Element in der beruflichen Grundbildung




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Überblick über Lehrwerkstätten

Die ersten Lehrwerkstätten wurden Ende des 19. Jh. in der Schweiz eingeführt (Wettstein E. & Gonon P., S. 172ff). Je nach Ausgestaltung dienen Sie heute als Orte, in denen "off the job" wie in einer Fachschule ausgebildet wird und die Praxis simuliert wird oder "on the job" im Kontext des regulären Wertschöpfungsprozess auftragsorientiert ausgebildet wird.

In der Typisierung wird unter den Lehrwerkstätten wie folgt unterschieden: 

1) Ausbildungszentren: Sie sind von den OdA getragen. Hier finden ÜK statt und sind für berufsorientierte Weiterbildungen geeignet. Darüber hinaus werden sie für die höhere Berufsbildung genutzt. Für die jeweiligen Berufe können sie als Kompetenzzentren dienen.

2) Betriebliche Ausbildungszentren (vgl. S. 181f): Es sind Ausbildungsstätten von Grossbetrieben und Lehrbetriebsverbünden (Ausbildungsverbünden). Die Lernenden bereiten sich on the job vor und stehen im Wertschöpfungsprozess. Die betrieblichen Ausbildungszentren werden gelegentlich auch für ÜK eingesetzt. 

Hintergründe zu den betrieblichen Ausbildungszentren: 
  • Rationalisierung; verstärkte Arbeitsteilung und Lernende als Störfaktor sind Gründe für Auslagerungen der Ausbildung. Daraus entstehen spezielle Unterrichtsstätten und Fabriklehrwerkstätten
  • Um Kosten zu senken und Betriebsnähe zu verbessern führen manche Unternehmen keine Lehrwerkstätten, sondern „Lerninseln“ in Produktionswerkstätten. Dabei steht nicht die Produktion sondern die Schulung im Vordergrund.
  • In den letzten Jahren haben die meisten Grossunternehmen der Industrie die berufliche Grundbildung ausgelagert und Ausbildungsverbünde gegründet. Hier besteht oft eine enge Zusammenarbeit mit den Mutterfirmen.
  • Betriebliche Ausbildungszentren finden sich vor allem in der Metall- und Maschinenbranche sowie in der chemischen Industrie.

3) Übungsbüros (in Handelsmittelschulen) und Juniorfirmen finden sich in schulisch dominierten Grundbildungen wieder. Hier werden Geschäftsvorfälle simuliert.

4) Öffentliche Lehrwerkstätten (vgl. S. 179ff): Dabei handelt es sich um selbständige Ausbildungsstätten, in denen berufliche Grundbildung vermittelt wird. Sie sind eine Alternative zur Betriebslehre. Öffentliche Lehrwerkstätten finden sich in reglementierten Berufen wieder (z.B. Mediamatiker) in denen das Berufsschulangebot noch weniger ausgedehnt ist. Die berufliche Grundbildung kann hier vor Ort praktisch und theoretisch abgehalten werden. Für eine möglichst gute Simulation der Berufswirklichkeit werden die Güter teils auch von der Institution verkauft. 

Öffentliche Lehrwerkstätten sind beliebt; entsprechend können sie von den besten Bewerbern auswählen. Aber: Einzelne Werkstätten halten bewusst einige Plätze für Jugendliche offen, welche sonst in der Wirtschaft kaum eine Chance haben. Hier finden wir sozial- und sonderpädagogisch ausgerichtete Werkstätten, welche ausschliesslich benachteiligte Jugendliche berücksichtigen, wie z.B. das Brüggli und der Märtplatz.

Zukunftsmodell Brüggli und Märtplatz

Die Berufsfachschule, der Lehrbetrieb sowie die ÜK repräsentieren die drei Lernorte des trialen Ausbildungssystems in der Schweiz. Ein Teil der ÜK findet in den Lernwerkstätten statt. Durch die Lernwerkstätten mit sozialer und sonderpädagogischer Ausrichtung kommt eine zusätzliche Dimension der Berufsausbildung ins Spiel. Diese Dimension deckt jenen Teil der Ausbildung von Jugendlichen ab, welcher durch die anderen Lernorte nicht abgedeckt werden würde. Hier wird Jugendlichen ein berufliches Ausbildungsangebot aus einer Hand offeriert, welches zielgenau auf die Bedürfnisse lernschwacher oder gehandikapter Jugendlicher eingeht. Das Brüggli und der Märtplatz begleiten ihre Jugendlichen, welche zum Teil durch die IV zu ihnen kommen, durch Coachings und engen Hilfestellungen.

Damit wird eine Lücke geschlossen, welche durch die konventionellen Programme und Bildungsangebote auf der Sekundarstufe II nicht gedeckt werden würde.

Das Brüggli präsentiert sich auf seiner Homepage mit folgenden Worten:
"Vielfalt statt Einfalt.
Mit rund 700 Mitarbeitenden ist Brüggli eine der vielseitigsten und modernsten Ausbildungs-und Integrations-Institutionen in der Ostschweiz.
Dies sind unsere Geschäftsbereiche: Industrie mit Mechanik, Montage, Textil, Verkauf und Einkauf; Qualitäts-Kontrollcenter; Multimedia mit Informatik, Druckerei und Printmedienverarbeitung; Gastronomie: Verwaltung mit Finanz- und Rechnungswesen und Personaladministration; Zentrale Dienste mit Technischen Diensten und Logistik; Arbeitsassistenz mit Stellenvermittlung und Jobcoaching; ASCOL mit Assessments, Coaching und Learning; Wohnen"
Der Märtplatz seinerseits stellt sich auf seine Homepage mit folgenden Worten vor: 
"Der Märtplatz liegt im Zürcher Unterland, in Rorbas-Freienstein. In gegenwärtig neun Werkstätten sind rund 30 junge Menschen mit psychischen und/oder sozialen Schwierigkeiten in Ausbildung. Unsere Lehrlinge wohnen selbständig; allein, zu zweit oder in kleinen Wohngemeinschaften in von uns gemieteten Wohnungen im weiteren Umfeld des Märtplatz. Die meisten jungen Menschen werden uns von der Invalidenversicherung zugewiesen. Die Lehrlinge müssen in ihrer Ausbildung nicht unter Zeitdruck einen Verkaufserlös erwirtschaften, die Lehrmeister/innen können individuell auf die Bedürfnisse der Lernenden eingehen.

Individuelle Betreuung an Stelle von Standardisierungen, individuelle Geschwindigkeit statt Hast und Eile, Farbe statt Schwarz-Weiss, freie Wahl des Weges statt Vorgaben. - So könnte plakativ der Unterschied beschrieben werden, womit wir es bei den sozial orientierten Lehrwerkstätten zu tun haben im Vergleich zu der herkömmlichen beruflichen Grundbildung im dualen / trialen System. - Jugendliche, welche sonst schulisch oder von der Seite des Arbeitsplatzes aussortiert worden wären, haben nunmehr Zukunftspläne und Ziele. Sie probieren in diesem Rahmen aus, finden ihre Neigungen und berufliche Zukunftsausrichtungen; sie orientieren sich.



Literatur:

Wettstein, Emil & Gonon, Philipp (2009): Berufsbildung in der Schweiz. hep Verlag AG Bern, 1. Auflage 2009.